Prof. Johannes Schreiter zählt zu den einflussreichsten Glaskünstlern der deutschen Nachkriegsmoderne. Im angelsächsischen Raum gilt er als „Pionier moderner Glasgestaltung“.[1]

Die Bedeutung von Schreiters Wirken hat der Kunsthistoriker Dr. Holger Brülls 2008 treffend zusammengefasst:

„Es gibt unter den lebenden Künstlern keinen, der die Vorstellung moderner Glasmalerei so paradigmatisch verkörpert wie Johannes Schreiter. Als Glasmaler ist Schreiter gewissermaßen der Epochentypus der Spätmoderne. Sein unverkennbarer Individualstil, [..], hat im Laufe der Jahrzehnte einen Bannkreis erzeugt, der es nachrückenden Künstlergenerationen nicht eben einfach macht, sich von diesem Vorbild zu lösen.“[2]

Dabei hat Johannes Schreiter nicht nur den Stil moderner Glasmalerei nachhaltig beeinflusst, sein Arbeiten hatte auch Auswirkungen auf das Handwerk. Seit nun mehr über 60 Jahren dürfen wir Herrn Schreiter durch seine verschiedenen Schaffensphasen begleiten. Seine Entwürfe haben unser handwerkliches Geschick wiederholt auf die Probe gestellt und uns herausgefordert, die Grenzen unseres Werkstoffs neu auszuloten.

In den späten 1950er und 1960er Jahren entdeckte Johannes Schreiter, seinem Selbstverständnis nach Maler und Zeichner, die Möglichkeiten des Mediums Glas. 1958 entwarf er sein erstes Glasfenster für die Ev. Kirche St. Lukas in Bonn, das ein Jahr später in unserer damaligen Werkstatt in Rottweil als Bleiverglasung ausgeführt wurde. In dieser frühen Schaffensphase experimentierte Schreiter auch mit der damals neuen Technik der Betonverglasung: Mit Hilfe des Rottweiler Studios, das sich bereits in den 1950er Jahren intensiv mit den Möglichkeiten von Betonglas beschäftigt hatte, setzte er mehrere Projekte in dieser Technik um, unter anderem auch 1961 die Fenster für die Diözesankapelle in Johanniskreuz (Pfalz).[3]

Innenansicht der Lukaskirche in Bonn mit Blick auf das große Buntglasfenster, kunstvoll beleuchtet, Schwarz-Weiß-Fotografie.
Großes Kirchenfenster mit modernem, abstraktem Buntglasdesign, Licht scheint hindurch in einen Innenraum mit einer großen Wand unregelmäßiger Steine

Es entwickelte sich in den darauffolgenden Jahren eine enge Verbindung zwischen Schreiter und dem Werkstatt-Team der 1955 eröffneten Dependance in Wiesbaden (ab 1973 am heutigen Standort in Taunusstein-Wehen). In den Werkstätten entstanden eine Vielzahl bedeutender Projekte, wie etwa die Fenster für die Kirche Notre-Dame in Douai, Frankreich 1976. In den Werken dieser Schaffensperiode finden sich vielfach komplexe Netz- und Gitterstrukturen, so auch in den Fenstern für die Marienkirche in Lübeck 1981. In diesen auf den ersten Blick geordneten und berechenbaren Flächenmuster existieren immer auch Elemente der Auflösung, Zerstörung und Verletzlichkeit, symbolisiert durch einzelne Linien oder aufbrechende Strukturen. Unsere Mitarbeiter setzten diese Entwürfe in komplexen Bleiverglasungen um, jedes Stück Echt-Antikglas wurde vom Künstler einzeln nach Schattierungen aus den Glastafeln ausgewählt.

Bild eines gotischen Kirchenfensters mit kunstvoller Bleiverglasung und deutlich sichtbarem Strebewerk.

Seit Anfang der 1980er Jahre suchte Schreiter gemeinsam mit der Werkstatt intensiv nach Möglichkeiten, seine in den 1950er Jahren entwickelte Technik der Brandcollage in Glas zu übertragen. Eines der wichtigsten Bildzeichen Schreiters, die Brandform als dunkel aufbrechende Rauchblase sollte in realistischer Darstellung auf Glas übersetzt werden. Als Versuche, die feinen homogenen Farbverläufe mit Pinseln auf das Glas zu übertragen nicht das gewünschte Ergebnis erzielten, experimentierte das Team erstmals in der Geschichte der Glasmalerei mit dem Airbrush-Verfahren. Hierbei werden in einem Trägermedium gelöste Glasmalfarben mittels einer Airbrush-Pistole und Druckluft hauchdünn und in mehreren Schichten auf das Glas aufgetragen. Als maßgeblich an der Entwicklung beteiligt, sind Andreas Otto, Karl Heinz Traut, Victor Baumgartl und Ingo Enzmann hervorzuheben.

Zwei Männer betrachten eine Glaskunstarbeit mit rotem Akzent; einer benutzt einen Pinsel. Es sind 1982 Johannes Schreiter und Mitarbeiter Ingo Enzmann bei der Entwicklung der Brandcollage auf Glas.

In den folgenden Jahren wurde diese, wie auch andere Techniken immer weiter perfektioniert und ergänzt. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren etwa, begann Schreiter auch mit Plexiglas zu arbeiten. Aus dieser Zeit stammen die Erfahrungen, die Bleirute in mannigfacher Weise zu manipulieren. Die dabei erworbenen Fähigkeiten unserer Mitarbeiter nutzte Schreiter sodann auch für seine Glasarbeiten, in denen die expressiven Bleiruten längst zu seinem „Markenzeichen“ geworden sind:

 „Diese einzigartigen Linien, die sich völlig freimachend von den konstruktiven Zwängen der Bleiführung in traditioneller Glasmalerei, sind seit jeher das Hauptfaszinosum der Schreiterschen Bildsprache [..]. Treffsicher in bestimmte Bildzonen einschlagend, lassen sich diese Linien als Diagramme einer ungesteuerten ambivalenten Empfindung deuten, die Schmerz und Mitgefühl, aber auch Aggression sichtbar machen. In den Linien werden Emotionen frei, die den Prozess der Bildentstehung ebenso begleiten wie die Betrachtung.“[4]

Alt-Text: Einzelne Glaselemente für ein Buntglasfenster liegen auf einer Schablone zur Anprobe und weiteren Bearbeitung.

Aus handwerklicher Sicht betrachtet, zeichnen sich Schreiters Arbeiten der letzten drei Dekaden durch eine Kombination verschiedener, hochperfektionierter Techniken aus: homogene, fließende Übergänge, händisch geätzt und gespritzt, manipulierte Bleirouten, geschnitzt und – für das Auge des Laien nicht erkennbar – malerisch aufgebrochen auslaufend fortgeführt.  Die Innovation besteht nicht mehr allein in der Entwicklung, sondern in der Verknüpfung bestehender Techniken – immer mit dem Ziel den Ansprüchen des Künstlers und den Veränderungen in Schreiters Entwurfsarbeit aufs Beste gerecht zu werden.

Bis ins hohe Alter lässt es sich Schreiter nicht nehmen, seine Entwürfe in 1:1 Maßstab genausten zu bestimmen, die Auswahl der Farben in unseren Werkstätten engst zu begleiten und auch den Karton noch während der Umsetzung zu Perfektionieren. Es ist dieser hohe Anspruch, an dem unsere Mitarbeiter wachsen und der handwerkliche Innovation inspiriert.  Wir sind stolz, Herrn Schreiter über die Jahrzehnte in seinem Wirken unterstützt zu haben und danken ihm für die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Johannes Schreiter im Jahr 2019 bei der Arbeit an einem Entwurf im Maßstab 1:1 für ein Fenster in der Glashütte Lamberts. Künstler zeichnet mit Konzentration Linien auf ein großes Vorlagenpapier für ein Glaskunstwerk.
Zwei Personen betrachten farbiges Glas in einer Werkstatt; Farbproben im Hintergrund sichtbar.

Heute aber möchten wir vor allem eins: Gratulieren! Johannes Schreiter feiert diese Woche seinen 91. Geburtstag. Unser ganzes Team gratuliert herzlich und wünscht Herrn Schreiter ein gesegnetes neues Lebensjahr.

Haben wir Ihr Interesse geweckt? Erfahren Sie mehr über da Spätwerk von Johannes Schreiter in der aktuellen Publikation von Gunter Sehring: Johannes Schreiter 2011–2017. Werke in Glas. Entwürfe. Zeichnungen. Texte. Bei uns erhalten sie das Buch auch exklusiv in einer streng limitierten Auflage mit individuell angefertigter und von Johannes Schreiter signierter Glaseinlage. Mehr Informationen finden Sie hier.

 

Offenes Buch mit dunklem Einband und einer eingesetzten gelben Glasscheibe im Fokus.

[1] Sam Halstead, Lighting the Way: The German Pioneers of Modern Stained Glass, Dokumentarfilm 2017, zu sehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=E0A1NWEpIbg (03.03.2021).

[2] Brülls, Holger, Künstlerfenster als Impulsgeber für die Glasmalerei der Gegenwart: Erfahrungen aus der Moderne in: Wilhelm Derix (Hg.): Lüpertz – Richter – Schreiter. Große Glasmalereiprojekte 2007 in Köln und Mainz, Taunusstein 2008, S. 29.

[3] So wurden auch einige der frühen Betonglasarbeiten von Jochem Poensgen in Rottweil gefertigt u.a. die Fenster für St. Suitbertus in Ratingen.

[4] Holger Brülls, Zeitgenössische Glasmalerei in Deutschland, Chartres 2012, S. 98.